Die Normative Kraft des Faktischen: Gedanken zur DSB-Satzungsreform

Da ich zur Zeit wieder einmal für ein paar Tage von meiner Frau getrennt lebe (was aber nichts mit dem Zustand unserer Ehe zu tun hat), habe ich endlich wieder einmal Gelegenheit, mich zum Thema Schach nicht nur auf Twitter zu äußern. 

In knapp zwei Wochen findet der DSB-Hauptausschuss statt, dort soll es vor allem um Anträge und Nachwahlen gehen. Aber auch die seit 2019 angepeilte Satzungsreform macht Fortschritte, und soll dort diskutiert werden. Genauer gesagt die ersten Ergebnisse der Arbeitsgruppe zur Satzungsreform, die man auf der Webseite des Schachbunds hier einsehen kann.

2019 tagte der DSB Hauptausschuss in Hamburg letztmalig in Präsenz
Foto: Schachbund

DSB-Präsident Ullrich Krause hatte zur Satzungsreform eine Debatte ohne Denkverbote angeregt. In der Tat sind in den ersten Vorschlägen der Arbeitsgruppe einige sehr weitreichende Diskussionen enthalten, z.B. über die Frage, wer eigentlich im Deutschen Schachbund Mitglied sein sollte, also Einzelpersonen, die Vereine, oder die Landesverbände. Warum ich diese spezielle Frage schon aus Gründen der Durchsetzbarkeit nicht für relevant halte, werde ich zu gegebener Zeit vielleicht mal in einem separaten Artikel erläutern. 

Die Mehrzahl der Vorschläge sind m.E. allerdings eher Maßnahmen zur Effizienzsteigerung bestehender Abläufe und Reformen im Detail. Und eben nicht der ganz große satzungspolitsche Neuanfang. Der ist allerdings meiner Meinung nach auch gar nicht notwendig.

Es liegt in der Natur der Sache, daß der Deutsche Schachbund als real existierende Großorganisation seine bestehende Satzung nicht einfach über Bord werfen und bei Null anfangen kann. Wirklich tiefgreifende Reformen sind vor allem auch deswegen schwierig, weil sich natürlich niemand die Butter vom Brot nehmen lassen will, und widerstandslos auf Einfluss verzichtet. Organisationen neigen dazu, den Status Quo zu perpetuieren.

Politik ist eben immer auch die Kunst des Machbaren; auch die schönsten Vorschläge sind wertlos, wenn sich keine dementsprechenden Mehrheiten organisieren lassen. Und genau das ist der Punkt: letzten Endes hängt die Satzungsreform von der Zustimmung der Landesverbände ab. 

Soweit ich es beurteilen kann, liegen viele der Konflikte, die das deutsche Schach in der Vergangenheit geplagt haben, im Spannungsverhältnis zwischen Landesverbänden und dem Schachbund begründet. Ich möchte hier nicht noch einmal den Marsch durch die Irritationen antreten; die Probleme der jüngeren Vergangenheit sind hinlänglich bekannt. 

Ich würde mir zwar eine grundsätzliche Klärung des konfrontativen Verhältnisses zwischen Schachbund und Landesverbänden wünschen; bin aber andererseits Realist genug, um zu wissen, daß sich mit den bestehenden Macht- und Mehrheitsverhältnissen im Deutschen Schachbund die hier nötige, grundsätzliche Neustrukturierung sehr schwierig gestaltet.

Vielleicht kommt noch Bewegung in diese Debatte, bis zum außerordentlichen Bundeskongress im zweiten Halbjahr 2022 ist ja noch etwas Zeit. Ich bin in dieser Frage allerding skeptisch.

Unter den Talaren Muff von 1.000 Jahren? So weit würde ich nicht gehen, aber beim Deutschen Schachbund gibt es offensichtlich Reformbedarf 

Dieser Realität scheinen sich auch die Entscheidungsträger beim Schachbund bewusst zu sein, denn die auf dem Tisch liegenden Vorschläge zur Satzungsreform sind größtenteils evolutionär, nicht revolutionär. 

Nichtsdestotrotz: auch wenn der ganz große Wurf vermutlich ausbleibt, geht die Debatte ganz eindeutig in die richtige Richtung, und unter den vorliegenden Vorschlägen befinden sich eine ganze Reihe von sinnvollen Verbesserungen:

Präsidiumswahl per Ticket

Positiv bewerte ich den Vorschlag, die wichtigsten Präsidiumsmitglieder nur noch per Ticket zu wählen

Ganz allgemein finde ich, dass sich beim Schachbund seit einigen Jahren vieles zum Guten gewandelt hat. Negativ aufgefallen ist mir allerdings immer wieder, dass es zwischen einigen Präsidiumsmitgliedern offensichtlich zwischenmenschlich nicht funktioniert hat. Das ist unprofessionell, lähmt die inhaltliche Arbeit, und führt dazu, dass zu viel Energie auf Nebenkriegsschauplätzen verbrannt wird. 

Eine Ticketlösung, bei der der Präsident, der Stellvertreter des Präsidenten, und der Vizepräsident Finanzen nur zusammen als Team gewählt werden können, kann hier Abhilfe schaffen, da anzunehmen ist, dass nur Teams von Leuten antreten werden, die miteinander "können".

Andererseits sollte man bedenken, dass der Schachbund schon jetzt Schwierigkeiten hat, seine Ehrenämter zu besetzen. Eine Ticketlösung verschärft dieses Problem unter Umständen noch weiter, weil sich immer gleich drei Kandidaten finden müssen. Idealerweise ja noch mehr (sechs oder gar neun?!), weil es m.E. besser wäre, wenn die Delegierten auch tatsächlich eine echte Wahl zwischen verschiedenen Kandidaten (oder eben Teams) haben, und nicht nur mangels Alternative darauf angewiesen sind, den jeweiligen Amtsinhaber zu bestätigen.

Ausserdem verhindert oder zumindest erschwert man damit vermutlich die unwürdigen Vorgänge vom DSB-Kongress im Sommer 2021, als einige Delegierte verschiedenste Kandidaten mehr oder weniger willkürlich und ohne Angabe von Gründen bei der Wahl durchfallen ließen.
Ein derart unwürdiges Gewürge mag ich mir zumindest nicht vorstellen, wenn die drei Spitzenämter "en bloc" gewählt werden. Aber wer weiss, vielleicht trifft es dann die nicht ganz so prominenten Positionen im Präsidium.
Das von Schachfreund Mossakowski ausgemachte Zurückfahren der Demokratie kann ich beim besten Willen nicht erkennen. Die vorliegenden Vorschläge machen das (demokratisch legitimierte!) Präsidium schlicht und ergreifend handlungsfähiger.

Amtszeit 

Dazu passt der Vorschlag, die Amtszeit des Präsidiums von 2 auf 4 Jahre zu verdoppeln, damit nicht ständig Wahlkampf ist. Das scheint mir vernünftig, 2 Jahre sind in der Tat ziemlich kurz, auch im Vergleich mit anderen Verbänden und Organisationen.
Eine längere Wahlperiode stärkt vermutlich auch die Autorität des Präsidiums.

Erweiterung des Präsidiums

DSB Präsident Krause sagte letztes Jahr in einem Interview:
"Eines ist natürlich auch klar: Wir können nicht das gesamte uns zur Verfügung stehende Geld für Personal ausgeben, d.h. es wird auch zukünftig nicht ohne die vielen ehrenamtlichen Funktionäre gehen"
In der Tat soll das Präsidium nach den Vorschlägen der Arbeitsgruppe nun um eine Reihe von Personen erweitert werden, um die bestehenden Aufgaben besser abdecken zu können. 

Dieser Schritt ist m.E. absolut notwendig, gerade auch wenn man sich den absurden Zeitaufwand ansieht, der mit diesen Ämtern verbunden ist. 

Ich frage mich aber, ob sich für diese zu schaffenden Ämter auch genug geeignete Kandidaten finden lassen. Schon jetzt gestaltet sich das ja leider sehr schwierig. Es wäre zu begrüssen, wenn es mehr Wettbewerb unter fähigen Köpfen um diese Ämter gäbe. 
Und zwar nicht nur beim Schachbund. Auch beim Kongress des Landesverbands Schleswig-Holstein letzte Woche z.B. blieben einige wichtige Referentenstellen unbesetzt, weil sich keine Kandidaten finden ließen. 
Schachfreund Meyer-Dunker hat leider Recht - nicht nur beim Schachbund, sondern auch in den Landesverbänden ist die Personaldecke ziemlich dünn. 

Vizepräsident Spielbetrieb

Einen Vizepräsident Spielbetrieb zu installieren und das Thema dementsprechend aufzuwerten, erscheint mir anhand der dort zu bewältigenden Aufgaben sinnvoll. Baustellen gibt es genug, so z.B. die Zukunft der DSOL und DSAM, die mögliche Einrichtung einer Hybrid-Liga, der offensichtliche Reformbedarf in der 1. und 2. Bundesliga, sowie die Misere in den untersten Ligen, wo sich durch Corona und Vereinssterben immer mehr Mannschaften vom Spielbetrieb zurückziehen (interessanterweise trotz sogar z.T. sogar steigender Mitgliedszahlen einiger Vereine). 
Da der Schachbund bei vielen dieser Themen allerdings gar nicht bzw. nicht allein zuständig ist, bleibt abzuwarten, was ein Vizepräsident Spielbetrieb hier wirklich erreichen kann. Als zentraler Ideen- und Impulsgeber erscheint mir ein solches Amt aber tatsächlich sinnvoll. 


"Zimmer Frei" bei Dirk Jordan (links, bei der DSAM in Magdeburg, 2014): Auch wenn die "Causa Jordan" nun so langsam im Rückspiegel verschwindet, ist sie in der jüngeren Geschichte des Deutschen Schachbunds wohl noch immer das beste Beispiel dafür, dass man bei den Finanzen ganz genau hinsehen muss. 
Foto: Schachbund

Sanktionsregeln und Ethik-Code

Dann noch das leidige Thema Sanktionsregeln und Ehrenkodex. Hier gibt es m.E. Handlungsbedarf in dreierlei Hinsicht: 

Zum einen hat die "Causa Jordan" leider eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass man gerade im Spannungsfeld zwischen ehrenamtlichen und hauptamtlichen Funktionären wirklich wasserdichte Regeln rund um das Thema Geld und Interessenskonflikte braucht. 

Zum anderen auch das Thema Umgang von Funktionsträgern (aber auch Aushängeschildern wie z.B. Nationalspielern) untereinander. Hier finde ich es besonders schade, dass eine regulatorische Lösung überhaupt erst notwendig ist. Als "linker, liberaler Konservativer" (Joachim Gauck) bin ich ohnehin der Meinung, daß es fast immer zum Scheitern verurteilt ist, gutes Verhalten herbeiregulieren zu wollen. 
Aber immerhin, ein Ehrenkodex kann vielleicht wenigstens dabei helfen, Sanktionen gegebenenfalls leichter durchzusetzen, wie z.B. im Fall zweier Nationalspieler, die sich vor einigen Jahren öffentlichkeitswirksam auf den sogenannten "sozialen" Medien gegenseitig anpöbelten. 

Drittens, und aus meiner Sicht am wichtigsten (weil am häufigsten), ist die Frage nach den Sanktionen bei Betrugsfällen. Auch wenn ich die Vorschläge der Arbeitsgruppe so lese, dass es bei der Reform hauptsächlich um eine Neuregelung der Zuständigkeiten bei der Verhängung von Sanktionen geht, würde ich mir wünschen, dass in diesem Zusammenhang auch gleichzeitig inhaltlich nachjustiert wird. 
Ich persönlich vertrete hier wahrscheinlich eine extreme Meinung, denn ich fände es gut, wenn gegen Betrüger sehr harte Strafen zumindest möglich wären, bis hin zum lebenslangen Ausschluss vom gesamten Spielbetrieb. 

Allerdings sagte Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki vor einiger Zeit in anderem Zusammenhang, nicht die Höhe der Strafe wirke abschreckend, sondern die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden. Das gilt m.E. gerade auch hier beim Thema Betrug. 

Natürlich weiss ich, dass die Umsetzung und Durchsetzung von nennenswerten Sanktionen außerordentlich problematisch ist, denn auch bei diesem Thema ist der Schachbund ja z.T. gar nicht zuständig bzw. nicht alleinige Entscheidungsinstanz.
Die Debatte um die von Robert Hübner so genannte "Unterwerfungserklärung" ist mir da z.B. noch in unguter Erinnerung.

Fazit

Den ganz großen Wurf erwarte ich von der Satzungsreform nicht; das macht aber nichts, denn die bisher auf dem Tisch liegenden Vorschläge gehen wie hier anhand einiger Beispiele beschrieben, durchaus in die richtige Richtung. 

Es macht meiner Meinung nach sehr viel mehr Sinn, im Rahmen dessen, was realistischerweise durchsetzbar ist, sinnvolle Reformen anzustreben, als von vornherein die Satzungsreform mit unerfüllbaren Wünschen zu überfrachten.

Der eigentliche Konflikt, der der Unruhe im Schachbund zugrundezuliegen scheint, nämlich das konfrontative Verhältnis zwischen Schachbund und Landesverbänden, wird nicht angegangen. Ob und wenn ja wie dieses Problem jemals einer Klärung zugeführt werden kann, vermag ich nicht zu beurteilen.

Zumindest, was diesen Artikel angeht, halte ich es aber selbstkritisch mit Bertolt Brecht: der Vorhang fällt, und alle Fragen offen.

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