"Ich vermute, ein Chess.com Börsengang wird funktionieren" - ChessBase CEO Matthias Wüllenweber im Interview

Einleitung:


Als ich vor einiger Zeit an meinem Artikel über den geplanten Verkauf der Play Magnus Gruppe an Chess.com arbeitete, habe ich mich oft gefragt, wie man die Sache wohl bei ChessBase in Hamburg beurteilt. Dankenswerterweise hat sich ChessBase-Gründer, Geschäftsführer, und Chefentwickler Matthias Wüllenweber für ein Interview zur Verfügung gestellt, um diese Frage zu klären. Um das leidige Thema Cheating kamen wir aus aktuellem Anlass natürlich auch nicht herum.      


Die Firma ChessBase begleitet mich mit ihren Produkten gefühlt schon ein ganzes Schachspielerleben lang. Mitte der 1990er war Fritz 3 mein erstes Schachprogramm, damals noch auf MS-DOS auf einem 386er mit 2 MB RAM. Wenig später kam mit dem Umstieg auf Fritz 4 dann der Komfort einer Windows-Oberfläche dazu. Auch hardwareseitig ging es voran, ich verfügte mittlerweile über einen Pentium 100 mit erst 16, später dann 32 MB RAM. Bemerkenswert ist aus heutiger Perspektive, dass mit diesen Programmen selbst auf dieser vergleichsweise steinzeitlichen Hardware im Grunde bereits mein gesamter Analysebedarf abgedeckt war. Es war sehr lehrreich, gespielte Langpartien zunächst allein mit Fritz auf taktische Fehler zu untersuchen, und sie danach im Verein beim Training mit anderen Mitgliedern noch einmal unter eher strategischen Gesichtspunkten zu beleuchten.

Der nächste große Schritt nach vorn gelang mir dann mit dem Hauptprogramm ChessBase; wenn ich mich richtig erinnere, war es Version 6.0 oder 7.0. Damals noch mit hardwareseitigem Kopierschutz am Druckereingang. Die etwa 600 DM, die der Spaß damals gekostet hatte, waren für einen Schüler wie mich eine Menge Geld. Trotzdem hat sich gerade auch in der Rückschau die Anschaffung wirklich gelohnt. Sie fiel in etwa zusammen mit meinem Aufstieg in die Jugendbundesligamannschaft des SV Bad Schwartau. Das erlaubte mir auf meinem bescheidenen Amateurniveau vergleichsweise professionelles Arbeiten. Die Möglichkeit, sich auf Gegner gezielt vorzubereiten, weil es in der MegaBase entsprechende Partien gab, wirkte auf mich damals geradezu sensationell. 


Mitte der 1990er Jahre hatte ich mich bei einem Hamburgaufenthalt auch mal in die City Nord aufgemacht, um ChessBase einen Besuch abzustatten. Dort wurde ich dann allerdings am Eingang relativ schnell abgewimmelt. Auf die Idee, dass dort natürlich gar kein Ladenverkauf stattfindet, war ich nämlich nicht gekommen.

Trotz dieser antiklimaktischen Episode blieb meine positive Grundeinstellung zu ChessBase erhalten, und mit einem kleinen Bisschen norddeutschen Lokalpatriotismus hoffe ich, dass die Firma, allen Umwälzungen in der Branche zum Trotz, noch möglichst lange eigenständig erhalten bleibt. 

Wenn ich meine Frau, die nicht Schach spielt, davon überzeugen kann, werde ich zu Weihnachten vielleicht mal wieder eine neue ChessBase Version anschaffen. Die 600 Mark sind heute nicht mehr eine so hohe Hürde…

 

ChessBase-Gründer Matthias Wüllenweber im Hamburger Hafen. Im Hintergrund die Elbphilharmonie. Foto: Wüllenweber 


Herr Wüllenweber, wie laufen die Geschäfte?

Wir sind gut durch die Corona-Jahre gekommen, der Schachboom hat uns geholfen. Seit dem 24. Februar spüren wir Kaufzurückhaltung. Wir haben das Glück, überwiegend an Einzelkunden in vielen verschiedenen Ländern zu verkaufen. Das macht unser Geschäft relativ berechenbar, so dass wir hoffen, auch dieses Jahr mit einem Plus abzuschließen.


Hat der Schachboom die Nachfrage nach Ihren Produkten verändert? ChessBase richtet sich nach meiner Wahrnehmung hauptsächlich an starke Schachspieler und Vereinsmitglieder. Durch den Schachboom gab es nun aber eine Zeitlang eher eine große Zahl erwachsener Anfänger. 

Wir hatten einen erheblichen Zuwachs auf unserer Anfängerplattform schach.de. Dort versuchen wir, mit interaktiven Spielen die Schachregeln auf lockere Weise zu vermitteln. Tatsächlich richten sich unsere Produkte aber ganz klar an alle, die Schach nicht nur spielen, sondern auch spielstärkesteigernd trainieren wollen. 


Gibt es regionale Unterschiede in der Nachfrage?

Klar, die kaufkräftigeren „westlichen“ Länder mit lebendiger Vereins- und Turnierszene sind unsere wichtigen Märkte. Aber wir haben ChessBase inzwischen auch in Chinesisch lokalisiert.


Da bin ich überrascht. China galt vor einigen Jahren mal als das neue Schachwunderland. Inzwischen spricht die Schachwelt nur noch über Indien. Trotzdem lohnt sich die Lokalisierung ins Chinesische?

Wir sind ja in Indien nicht gänzlich untätig. Unser Schritt nach China wurde durch persönliche Kontakte ermöglicht. Wir haben auch unseren Shop für die wichtigsten Produkte lokalisiert: https://shop.chessbase.com/zh/ 


Wie läuft es für ChessBase in den USA? Einerseits boomt der Profibereich seit Jahren, getragen von den vielen Millionen des Mäzens Rex Sinquefield. Andererseits erlebe ich hier als Amateur, wie trostlos es vielerorts an der Basis aussieht. Wie wichtig ist der amerikanische Markt für Sie? 

Die USA sind allein aufgrund ihrer schieren Größe sehr wichtig. Wir haben dort aktive Vertriebspartner, aber inzwischen auch viele Direktkunden. Das spiegelt sich auch in der Leserschaft unserer englischen Nachrichtenseite en.chessbase.com wider.


Am 24. August verkündeten ein gut gelaunter Daniel Rensch und ein sichtlich zerknirschter Magnus Carlsen in einem Youtube-Video, dass Chess.com plant, die Play Magnus Gruppe zu übernehmen. Foto: Youtube


Ende August verkündete Chess.com zur Überraschung der Schachwelt, man wolle die Play Magnus Gruppe (PMG) übernehmen. Hatten Sie damit gerechnet?

Zu Zeiten der Dotcom-Krise las ich ein Buch, das mich bis heute geprägt hat: "Burn Rate" von Michael Wolff. Dies sensibilisierte mich für Geschäftsmodelle, die in der Startphase große Mengen an Kapital verbrauchen. Die PMG hat durch ihre Veranstaltungen Schach sehr bereichert, allein schienen die laufenden Kosten ziemlich hoch. Vielleicht schätzen wir bei ChessBase den Schachmarkt zu vorsichtig ein, doch die Ziele der PMG fühlten sich bei aller bewundernswerten unternehmerischen Kühnheit etwas optimistisch an. Mit der Chess.com Übernahme habe ich jedoch nicht gerechnet. Eher mit der Aufnahme von frischem Geld. Aber dafür war die Weltlage wohl nicht mehr passend.


Die Play Magnus Gruppe war mit ehrgeizigen Plänen, professionellem Management, und voller Kriegskasse angetreten, den globalen Schachmarkt aufzurollen. Nun ist sie überraschend schnell gescheitert. Woran hat es Ihrer Meinung nach gelegen?

Mein Blick auf die Schachwelt ist sehr technisch. Ich bin Programmierer und wüsste gar nicht, wie man durch Veranstaltungen von Schachturnieren im Internet Geld verdient. Ich hätte an deren Stelle (durch meine stark nerd-verfärbte Brille gesehen) jeden Cent in begeisternde Entwickler gesteckt, die in kreativer Eigeninitiative und mit Freude am Schach neue Technologie bauen. Die recht gemischte Einkaufspolitik der PMG stellte aus meiner Sicht eine enorme Herausforderung im Hinblick auf das Ziel unter einem technisch integrierenden Dach operierender symbiotischer Einzelfirmen dar. Wenn ich es richtig verstehe, war das aber eben gerade nicht das Ziel. Das sehe ich als Problem, aber ich habe auch keine Ahnung, unter welchen Visionen und Zwängen ein solches börsennotiertes Unternehmen operiert.

 

Vieles von dem, was Chess.com und die Play Magnus Gruppe machen, kostet sehr viel Geld. ChessBase ist seit jeher in Privatbesitz. Ich finde das sehr sympathisch; andererseits begrenzt das natürlich die zur Verfügung stehenden finanziellen Ressourcen. Gab es jemals Überlegungen, sich mit einem größeren Partner einzulassen, oder am Kapitalmarkt zusätzliches Geld aufzunehmen?
Wir hatten eher vage Angebote á la: "Hallo, ihr werdet jetzt ganz doll reich, dafür müsst Ihr nur ein bisschen Freiheit abgeben, ein bisschen mehr an Sachen arbeiten, die eigentlich keinen Spaß bereiten und Euren Mitarbeitern ein bisschen Angst machen". Das finden wir doof. Es hat einen Wert, Dinge tun zu dürfen, die kreative Freude bereiten, auch wenn sie nicht immer 100% mit Steigerung eines Share-Holder-Values korrelieren.


Das unterschreibe ich sofort. Aber dennoch: ChessBase hat eine sehr breite Produktpalette. Von Schachprogrammen und Datenbanken über Videokurse, dem PlayChess Server, dem ChessBase Magazin bis hin zur Nachrichtenseite. Haben Sie als vergleichsweise kleines Unternehmen überhaupt die finanziellen Möglichkeiten, alle Produkte technisch auf neuestem Stand zu halten? Es gibt Stimmen, die ChessBase vorwerfen, etwas altbacken zu sein.

Unser Flaggschiff ChessBase ist ein klassisches Windows-Programm. Ebenso Fritz. Das klingt heute altmodischer als alles, was im Web läuft. Während da ein Funken Wahrheit drin steckt, sehe ich bei meinen privaten Interessen ähnliche Markteffekte: Die großen Musik-Recording-Programme („DAWs“) laufen z.B. alle nativ auf Windows oder Mac. Oder die Kompositionsprogramme für Notensatz. Ebenso seriöse Astronomiesoftware. Es hat mit der Tradition der dahinterstehenden Firmen und kritischen Performancefragen zu tun.

Richtig ist, dass wir viele verschiedene Projekte machen und es nicht gelingt, an allem gleichzeitig zu arbeiten, obwohl das sehr wünschenswert wäre.


Welche kritischen Performancefragen sind das speziell für Ihre Produkte? Allgemein geht der Trend ja zu SaaS (Software-as-a-Service), nicht zuletzt, weil Hersteller ihre Kunden damit in profitable Dauerabos zwingen können.

Den Sinn der Abos verstehe ich schon. Es gibt aber auch handfeste anwenderfreundliche Vorteile, wie z.B. die Plattformunabhängigkeit. Natürlich denken wir darüber nach. Doch erwarten unsere Kunden hohe Suchgeschwindigkeit und performante Analysen. Beides ist hardwareintensiv. ChessBase kann eine CPU 50%-100% auslasten. Unsere Hoster hassen die Server, auf denen die Analyse-Slaves für live.chessbase.com laufen. Ein Word-Dokument, bei dem nur der Cursor blinkt, stellt viel geringere Anforderungen an die dahinter liegenden Ressourcen.


Screenshot der Chessable Webseite. 2021 betrug der Jahresumsatz der Play Magnus Gruppe laut Jahresabschlussbericht 21,5 Millionen Dollar. Die Schachkurse von Chessable waren dabei waren die wichtigste Produktgruppe und trugen mit 9,7 Millionen Dollar etwas weniger als die Hälfte zum Jahresumsatz bei.

 

Ganz allgemein: Können Sie etwas zu den Margen im Schachgeschäft verraten? Welche Produkte sind für Hersteller besonders lukrativ? Sind es die Schachprogramme, die Datenbanken, oder doch die Videokurse, auf die sich z.B. die Play Magnus Gruppe konzentriert hat? Was ist für Sie in der Herstellung besonders teuer?

Aus unserer Sicht ist ein Videokurs lukrativer als ein (digitales) Schachbuch. Ein gut vorbereiteter Autor schafft die Aufnahmen in einer Woche Studiozeit. Hinzu kommt zwar die nicht unerhebliche Postproduktion. Dennoch ist der Autorenaufwand bei einem klassischen Buch höher.

Spüren Sie Konkurrenzdruck bei den Videokursen? Chessable flutet seit einiger Zeit den Markt mit immer neuen Kursen; gleichzeitig nimmt die Zahl der Autoren zu, die ihre Kurse über die eigene Webseite vertreiben. 

Chessable ist hier unser zweitstärkster Konkurrent. Man muss abwarten, wie sich deren Kostendruck entwickelt. Unser stärkster Konkurrent sind die zahlreichen kostenlosen Angebote guter Streamer oder Youtuber. Hier bleibt unser Vorteil und Alleinstellungsmerkmal die flüssige Integration des Materials in die ChessBase-Welt. Bei seriöser Arbeit ist es eine Hürde, wenn man nicht interaktiv mit den Daten weiterarbeiten kann.


Und wie sieht es bei Schachprogrammen aus? Früher hatte ChessBase noch deutlich mehr Schachprogramme im Angebot, z.B. Junior und HIARCS. Lässt sich in Zeiten von Stockfish mit kommerziellen Schachprogrammen überhaupt noch Geld verdienen?

Die Vielfalt der kommerziellen Schachprogramme ist weitgehend dahin. Es war eine aufregende Zeit, als ich im Keller einen Computer hatte, der nur Matches zwischen Engines spielte. Ich halte diese Monokultur für spannungsarm, doch ist es der Wunsch der Anwender. In der Musikbranche lief es ähnlich: Als die Leute in den Achtzigern noch 20 Mark für eine (Achtung lustiges Wort:) Langspielplatte ausgaben, sahen wir eine überragende Vielfalt an Bands, die alle von ihrer Musik leben konnten.

Wir haben tatsächlich einmal einen großen Teil unseres Umsatzes mit Engines gemacht und dies heute durch andere Dinge ersetzt. Das ist ein normaler Vorgang. Wenn man lange am Markt ist, kann man nicht erwarten, dass die Geschäftsmodelle von 1987 auch heute noch gelten. Wir müssen uns ständig neu erfinden.


Auch bei Chess.com wird vermutlich früher oder später ein Börsengang anstehen. Lässt sich mit Schach Ihrer Meinung nach überhaupt genug Geld verdienen, um als börsennotiertes Unternehmen dauerhaft für Investoren attraktiv zu sein?

Ohne die Zahlen zu kennen, vermute ich, dass Chess.com eine solche Reichweite im Breitenschach erlangt hat, dass ein Börsengang funktionieren wird. Mit nochmals verbesserter Kapitalausstattung wird dann eine stark zentralisierte kommerzielle Kraft im Schach entstehen. Jaron Lanier spricht in seinem Buch "Who owns the future?" von den Siren Servers. Das sind die großen Internetfirmen, die alles Kapital und alle Marktmacht in den Händen einiger weniger Leute konzentrieren. Das scheint nun im Schach auch möglich. Aus Anwendersicht muss das nicht schlecht sein. Doch kommerzielle Monokultur gefährdet das Biotop der kleineren Firmen. Wir kommen uns dabei vor wie in einem kleinen gallischen Dorf und sind froh, dass wir bei ambitionierten Schachspielern ein gutes Standing haben.


Neben den kommerziellen Anbietern hat sich mittlerweile auch noch Lichess etabliert. Welche Rolle spielen Open Source Plattformen wie Lichess für Sie als Wettbewerber und Impulsgeber?

Lichess ist beeindruckend und hat für uns eine wichtige strategische Funktion: Sie halten Chess.com etwas in Schach. Ansonsten würde ich selbst gerne einmal am durchaus eleganten Stockfish-Code mitarbeiten, um Informationen aus der Suche für die Analyse in der GUI verfügbar zu machen.


Der Stein des Anstosses. In der dritten Runde des diesjährigen Sinquefield Cups gewann Hans Niemann mit Schwarz gegen Magnus Carlsen. Carlsen zog sich daraufhin vom Turnier zurück, und bezichtigte Niemann nur wenig verklausuliert des Betrugs. Rückendeckung bekam Carlsen von Chess.com, während Niemann seither vehement seine Unschuld beteuert. Mittlerweile ist der Konflikt vollkommen eskaliert. Mitte Oktober reichte Niemann Klage wegen Verleumdung gegen Carlsen, Chess.com Vorstand Danny Rensch, der Play Magnus Gruppe, und Hikaru Nakamura ein. Er fordert mindestens 100 Millionen Dollar Schadenersatz.

Foto: GCT/ Lennart Ootes


Das Thema Cheating kann ich uns leider nicht ersparen. Bevor wir auf den Fall Niemann kommen, zunächst erst einmal ganz allgemein: bei der Auswertung verdächtiger Partien untersucht man, wie oft ein Spieler dem Enginevorschlag gefolgt ist. Gibt es dabei verschiedene Methoden?

Hier kann ich nur für uns sprechen, doch vermute ich, dass alle anderen Systeme ähnlich arbeiten: Man vergleicht für eine Partie jeden Zug mit dem besten Enginezug und misst den Bewertungsabstand in Bauerneinheiten. Der Durchschnitt dieser Werte ergibt ein Maß für taktische Genauigkeit. Der Trick ist die Wichtung der einzelnen Züge. War es schwer, den besten Enginezug zu finden? Wir verwenden unter anderem eine Heuristik, die die Schärfe der Stellung zu klassifizieren versucht. Ein weiteres Kriterium ist, wenn die Engine den besten Zug nicht sofort sieht.

Beim Blitzen auf einem Schachserver kann man zusätzlich noch einigen trivialen Kram machen: Normalverteilung/Standardabweichung des Bedenkzeitverbrauchs berechnen, Profil der Mausbewegungen, Task Switches (Browser geht in den Hintergrund, weil andere Software benutzt wird).


Lässt sich Ihrer Meinung nach Betrug auf diese Art wirklich nachweisen, oder sind solche Analysen nur ein starkes Indiz?

Das wird umso schwieriger, je länger die Bedenkzeiten und je stärker die betrachteten Spieler sind. Ich konnte jedenfalls mit unserem System zeigen, dass Kasparov schon in den Achtzigern verdächtige Partien spielte. Es ist bemerkenswert, dass er damals offenbar schon Zugriff auf geheime starke Engines hatte, während der Rest der Welt noch mit Taschenrechnern arbeitete.


Halten Sie diese Analysen für “gerichtsfest”? Hans Niemann hat heute Klage wegen Verleumdung eingereicht, und will 100 Millionen Dollar Schadenersatz von Carlsen, Rensch, der Play Magnus Gruppe und Hikaru Nakamura. Sollte es zum Prozess kommen, wird diese Frage sicher eine Rolle spielen.

Dazu werden im Verfahren externe Gutachter sprechen. Unser eigenes Anticheating-System könnte einen Spieler wie mich mit verschwindender Restunsicherheit bezichtigen, bei einem starken Großmeister blieben immer Zweifel. Chess.com ist hier sicher besser, und ich meine das ironiefrei. Nun werden wir im Zuge des Verfahrens lernen, wie ihr System funktioniert. Aber das bezieht sich auch nur auf die Onlinepartien.

Ich möchte nun nicht in der Haut der „Defendants“ stecken, diese Klage kostet Zeit, Geld und Image.


Wird der Nachweis von Betrug auch dadurch schwerer, dass die heutige Generation von Spitzenspielern ohnehin viel mit Engines arbeitet, und sich von ihnen z.T. ganze Varianten diktieren lässt? Mit anderen Worten: heutige Spitzenspieler spielen in der Tat sehr viele Enginezüge, nur eben legal vorbereitet.

Das gilt nur für die Eröffnungsphase. Richtig ist hingegen, dass die heutige Generation viel genauer spielt als vielleicht vor 60 Jahren.


Was ist Ihre Meinung zu den Vorwürfen gegenüber Hans Niemann?

Ich habe keine Meinung dazu. Man müsste die Partien mit unseren aktuellen Werkzeugen analysieren, wofür mir aktuell Zeit und auch die Motivation fehlt. Es ist kein erbauliches Thema und man mutiert mental sofort zum Staatsanwalt.

Es ist offenkundig, dass Niemann ein sehr starker Spieler ist. Andererseits scheinen die berichteten statistischen Daten nicht zu entlasten, doch erfahre ich das alles nur zweiter/dritter Hand auf Twitter. Es gibt offenbar lange Videos und seitenweise Erklärungen von vielen hochrangigen Leuten dazu. Ich habe mir das noch nicht angesehen.

Was ich aber immer angenommen habe: Richtiges Cheating ist in der Spitze schwierig, weil dann beim ersten starken Blitzturnier schnell Verdachtsmomente entstehen.


Problematisch finde ich die Rolle von Chess.com in dieser Angelegenheit. Die verdächtigen Partien wurden auf deren Servern gespielt. So weit so gut. Das Unternehmen ist aber mittlerweile auch selbst handelnder Akteur in dieser Affäre, und zu allem Überfluss vermutlich bald auch noch Geschäftspartner ausgerechnet von Magnus Carlsen. 

Wie sehen Sie die Rolle von Privatunternehmen wie Chess.com oder ChessBase im Zusammenspiel mit Turnierveranstaltern und Schachverbänden in Hinblick auf mögliche Interessenskonflikte?

Mein persönliches Interesse an starken internationalen Onlineturnieren mit Geldpreisen erlahmte nach den ECU-Meisterschaften, die wir 2004 austrugen. Ich habe mir mit Martin Fischer ein Wochenende im Büro um die Ohren geschlagen, um die Cheating-Überwachung zu leisten. Wir hatten technisch schon gute Werkzeuge und das Turnier in dieser Hinsicht im Griff. Doch war es höchst unangenehm, die Auseinandersetzung mit den starken Verdachtsfällen zu führen. Das ist nicht unser Geschäft. 

Ich habe mir damals vorgestellt: Du bist irgendein Feld-Wald-Wiesen-IM aus einem weniger wohlhabenden Land. Du denkst Dir: „Wenn ich jetzt den Preis mache, kann ich meiner Frau warme Winterschuhe kaufen“. Die Versuchung ist zu stark. 

Bei rein deutschen Events läuft das heute hingegen gut, vor allem, wenn nur starke Spieler beteiligt sind. Man kennt sich. Aber auch bei der DSOL gab es bei klaren Fällen ein Riesengezeter. Da zieht ein Verein trotzig alle Mannschaften zurück, weil in einem Match heftigste Verdachtsmomente augenfällig geworden sind. Das macht einfach keinen Spaß.

Ich könnte mir vorstellen, dass die aktuelle Diskussion bei Chess.com nicht nur Begeisterung über gigantische Imageverbesserung auslöst.


Sollten also die Verbände bei der Aufklärung von Betrugsfällen federführend sein? Die haben meines Erachtens mehr Legitimation, was die Verhängung von Strafen angeht. Andererseits fehlt vielleicht das technische Know-How.

Die Verbände besitzen die Autorität, Spieler für offizielle Wettbewerbe zu sperren. Das ist eine empfindliche Drohung. Das Problem ist die Beweisführung. Meine persönliche Überzeugung ist, dass die verschiedenen von den Serverbetreibern verwendeten statistischen Methoden im Amateurschach aussagekräftig sind. Ich nehme die vom DSB getragene DSOL als Beispiel: Die Entscheidung liegt hier bei einem Schiedsrichterteam, dass sich die Untersuchung nicht leicht macht. Verdächtige Partien werden diskutiert und entlastende Momente gesucht. Im Zweifelsfall immer für den Spieler. Das ist ausgesprochen aufwändig. Diese weichere Linie ermöglicht dann aber konsequentes Durchgreifen, weil man sich seiner Sache sicher sein kann. 

Man kann im Kontrast auch die Linie von Felix Dserschinski (Leiter der bolschewistischen Tscheka, einer Vorläuferorganisation des KGB) fahren: „Man muss ein paar Unschuldige erschießen, damit die Schuldigen Angst bekommen“. Das funktioniert super, doch mir gefällt das nicht.


Würden Sie prominente Spieler auch auf Ihren Servern sperren, wenn sie bei Chess.com, Lichess, oder offline des Betrugs überführt werden?

Wir würden sicher einem offiziellen Verbandsurteil folgen, nicht den Entscheidungen privater Kommissionen, deren Urteilsfindung aktuell noch nicht transparent ist.


Andersherum gefragt: Auch ohne offizielles Verbandsurteil sperren Sie Spieler auf ihren Servern? Als Handhabe dient Ihnen dabei vermutlich, dass Cheating explizit gegen die Nutzungsbedingungen verstößt?

Auf dem eigenen Server ist es eher eine Frage des virtuellen Hausrechts. Unsere Türsteher lassen die einfach nicht mehr rein.


Sollten des Cheatings überführte Spieler lebenslang gesperrt werden?

Glaubt man an die Resozialisierung von Straftätern? Aus meiner Sicht sollte man aber über Strafen erst reden, wenn sich akzeptierte Verfahren der Ermittlung/Beweisführung herausbilden.

Bei Verbrechen wirkt nicht die Höhe der Strafe abschreckend, sondern die Wahrscheinlichkeit, entdeckt zu werden.

 

Screenshot der ChessBase Online-Hilfe zur Centipawn Analysis. Das Verfahren wird zur Untersuchung verdächtiger Partien eingesetzt. Der Eintrag ist lesenswert, und länger als hier im Screenshot abgebildet.


Online- und Hybridformate werden in Zukunft vermutlich eher noch zunehmen, und damit sicher auch die Verdachtsfälle. Bisher haben wir nur über Aufklärung im Nachhinein gesprochen. Haben Sie aus Ihrer technischen Arbeit auch noch Empfehlungen, wie man Cheating von vornherein zumindest eindämmen kann?

Zeitverzögerung bei Liveübertragung erschlägt aus meiner Sicht 90% aller Probleme im Bereich der starken Turniere. 20-30 Minuten wären gut. Dazu ein Budget für Securityexperten, die sich mit modernen „Wanzen“, d.h. winzigen Sendern auskennen, die nicht auf Metalldetektoren reagieren. Wie beim Doping überraschende und dann intensive Kontrollen, die nicht bei jedem Spieler vor jeder Runde nötig sind.

Im Amateurbereich regelmäßige Analyse der Partien mit öffentlich zugänglichen Tools. In ChessBase 17 heißt die betreffende Funktion „Centipawn Analysis“.


Was sind aus technischer Sicht noch für Innovationen oder Durchbrüche zu erwarten, die den Kampf gegen das Cheating vereinfachen würden? 

Es wäre es gut, ein öffentliches, transparentes und von allen Seiten akzeptiertes Analysesystem zu haben, das regelmäßig verbessert würde. Ein klassisches Open-Source-Projekt. Das Problem wäre, dass solche Offenheit potenziellen Delinquenten beste Testszenarien ermöglichte.


Zuviel Transparenz ist also nicht hilfreich? Ist es nicht aber gerade der Mangel an Transparenz, durch den Chess.com im Moment in den Negativschlagzeilen steht?

Das Problem liegt in der fehlenden Gewaltenteilung. Kriminaltechnische Methoden sind aus gutem Grunde nicht transparent. Doch bin ich überzeugt, dass Serverbetreiber dennoch nach bestem Wissen und Gewissen vorgehen, weil in einer durch soziale Medien verstärkten Öffentlichkeit schnell teurer Imageverlust droht.


Zum Schluss noch einmal zu ChessBase. An welchen neuen Projekten arbeiten Sie im Moment?

Aktuell steht bei uns ChessBase 17 im Mittelpunkt. Es gibt ein neues Datenformat. Das Thema Engineanalyse wird völlig neu angegangen. Die Suchmaske ist neu und interaktiv. Wir bekommen die Suche nach „schönen“ Partien in den Griff. Das ist für mich überaus faszinierend. Ich habe gestern die schon bei ChessBase 16 mitgelieferte Datenbank berühmter Schachpartien für das „Replay Training“ nach Schönheit sortiert und die „Immergrüne Partie“ Anderssen-Dufresne kam auf Platz Eins, gefolgt von Anderssen-Kieseritzky. Das war ein Heureka-Moment, eine schöne Bestätigung des Algorithmus. Man bekommt einen frischen Blick auf riesige Datenbanken mit Fragen wie: „Was waren Spasskys spektakulärste Partien?“

Ansonsten steht Fritz auf der Xbox kurz vor Veröffentlichung. Weiterhin haben wir zwei recht innovative Projekte für 2023 in Vorbereitung, die aktuell noch ein bisschen im Hamburger Herbstnebel verborgen bleiben müssen. 

Vielen Dank für das Interview!

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Weiterführende Links:

Ich möchte dem geneigten Leser an dieser Stelle auch noch folgende Links empfehlen, weil sie das hier in diesem Interview Gesagte gut abrunden:

1.
Ein Interview des Schach-Podcasts Schachgeflüster mit Matthias Wüllenweber. Ab Minute 34:55 geht es auch um die Stockfish-Kontroverse. Weil das Thema dort relativ ausführlich abgehandelt wird, habe ich in diesem Interview darauf verzichtet.  

https://www.youtube.com/watch?v=8Kjkwj9DTk8

2.

“Wer verliert schon gern gegen Kollegen?”. Ein gelungenes Interview des Schachblogs Perlen vom Bodensee mit Matthias Wüllenweber über die Anfänge des Onlineschachs. Ein schöner Kontrast dazu, wie die Branche heute aussieht.
Bemerkenswert ist, dass der Autor vom Bodensee in diesem Interview sehr handzahm ist, während er normalerweise kaum eine Gelegenheit auslässt, über ChessBase herzuziehen.

https://perlenvombodensee.de/2020/12/14/wer-verliert-schon-gerne-gegen-kollegen-matthias-wuellenweber-ueber-onlineschach/

3.

64 Felder - Ein Lied von Matthias Wüllenweber über das emotionale Erlebnis einer Schachpartie. Ein weiteres Zeugnis dafür, dass Begabung und Interesse für Schach und Musik oft eng beieinander liegen.
https://www.youtube.com/watch?v=4zdgTeg-F6I


4.

"Der indische Schachmotor": Artikel des Schachblogs Perlen vom Bodensee über die von Matthias Wüllenweber in diesem Interview eingangs angesprochenen Aktivitäten von ChessBase in Indien.

https://perlenvombodensee.de/2020/08/16/der-indische-schach-motor-wie-sagar-shah-seinen-traum-wahr-machte/


5.

Mein Artikel zum operativen Scheitern der Play Magnus Gruppe. Im Abschnitt "Makroökonomischer Gegenwind" beschreibe ich die Gründe, die vermutlich dazu geführt haben, dass sich die Play Magnus Gruppe, wie in diesem Interview von Matthias Wüllenweber angesprochen, nicht auf dem Kapitalmarkt frisches Geld besorgt hat, sondern ihren Eigentümern als beste Option ihren eigenen Verkauf an den Konkurrenten Chess.com empfahl.

https://schachwelten.blogspot.com/2022/08/PMG-gescheitert.html


6.

"Kunze über Kunze. Heinz im Selbstverhör". Podcast des Musikers Heinz-Rudolf Kunze. Kunze bespricht seine eigenen Platten, und erzählt dabei auch kurzweilig von der Aufbruchs- und Goldgräberstimmung in der deutschen Musikszene der 80er Jahre, wie sie auch von Matthias Wüllenweber in diesem Interview kurz angesprochen wird.

https://kunzexkunze.podigee.io/


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